Das Studium schmälerte sie. Das war ein Satz, der passte. Sie setzte sich
wieder auf die Bank und strich ihren Mantel glatt. Endlich war sie in der Forschung,
endlich war sie weg von der Verbissenheit der Professoren, endlich konnte sie
frei sein. Wenn sie erzählen könnte, was ihr zurzeit am besten gefalle, wüsste
sie sofort was sie sagen würde. Sie würde sagen: Das Ungewisse. Vor kurzem
hätte sie noch einen Nervenzusammenbruch erlitten, wenn jemand sie auf das
Ungewisse angesprochen hätte. Sie hatte vieles geschafft und es lohnte sich
nicht mehr für sie, über all das nachzudenken was sie nicht schaffen könnte.
Auf dem Boden heute Morgen fand sie auf dem Boden auf dem Asphalt ein Blatt
Papier, bedruckt mit einem Gedicht. Es lag sauber und glatt da und stach in
ihre beiden Augen:
Wegwerfgedicht[1]
Dieses Gedicht kannst Du
wegwerfen
Du brauchst es nicht zu lesen
Du darfst es wegwerfen
Du brauchst es nicht auswendigzulernen
Du darfst es wegwerfen
Du brauchst es nicht in Deinen
Bücherschrank zu stellen
Du brauchst es nicht in Deiner
Schreibtischschublade zu verbergen
Du brauchst es nicht zu
verschenken
Du darfst es einfach wegwerfen
Du brauchst es nicht zu diskutieren
Du brauchst es nicht zu
analysieren
Du brauchst es nicht zu
Nützlichem zu gebrauchen
Du brauchst es nicht Deinen
Freunden zu zeigen
Du darfst es wegwerfen
Einfach wegwerfen
Und keine Schuldgefühle bitte
Und keinen
Minderwertigkeitskomplex
Und kein Bedauern, es war doch
ein so schönes Gedicht
Und kein schales Gefühl im Mund
Und kein Ohrensausen
Und keine Erinnerung an dieses
Gedicht
Das du einfach wegwerfen kannst
Ohne es zuvor laut in einem Park
zu rezitieren
Ohne es einem jungen Mädchen in
der Abflughalle des Flughafens
Ins Gepäck schmuggeln zu müssen
Ohne es essen zu müssen mit
Messer und Gabel in einem verworfenen
China-Restaurant, wo man Dich
sowieso schon komisch ankuckt,
Weil Du mit Messer und Gabel
dort aufkreuzt und diesem Gedicht,
Nein, dieses Gedicht ist ein
Wegwerfgedicht
Es ist kein Konservengedicht
Es ist kein Gedicht im
Frischhaltebeutel
Es ist kein Gedicht, das du bis
zum Verfaulsdatum aufzuheben brauchst
Es ist ein schlichtes, billiges,
einfach wegzuwerfendes Gedicht
Du brauchst es nicht zu lesen
Du brauchst ihm nicht zuzuhören
Du brauchst es nicht zu
beriechen
Du brauchst es nicht in Dein
Tagebuch zu schreiben
Du brauchst keinem zu lauschen,
der es in irgendeiner Fußgängerzone
Laut vor sich hinbrüllt
Du brauchst es nicht zu
interpretieren
Du brauchst Dich nicht von ihm
verwirren zu lassen
Du darfst es wegwerfen
In irgendeinen Mülleimer
Du darfst es auch einfach im Bus
liegenlassen,
Wenn du dich nicht getraust, es
öffentlich wegzuwerfen, so,
Daß man dich dabei beobachten
kann,
Nein, dies ist ein komisches,
verschrumpeltes, preiswertes
Wegwerfgedicht,
Ich fand es in einer
italienischen Eisdiele
Auf der Kaiserstraße in
Frankfurt am Main
Ich ließ es mir warm einpacken
Und dann habe ich es weggeworfen
Frag nicht, wohin
Sie nahm das Gedicht und hing es an ihre Wand. Weil es nicht danach gefragt hatte. Weil es niemandem gefallen wollte. Weil es einfach war.
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