Samstag, 25. Mai 2013

Über die Vermessung der Wirklichkeit Gottes und die Angst vor der Freiheit

Die Postmoderne zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch seine Wirklichkeit fassbar machen möchte, kontrollierbar, messbar und damit transparent. Damit dünkt er sich sicher; er glaubt zu wissen, was Produkt und wer Hersteller ist,  was Risiko und was Sicherheit ist; denn es ist ja faktisch evident, materiell und damit sichtbar. Doch inmitten dieser Angst oder Skepsis vor einer unbegreiflichen Wirklichkeit, dringt subtil die Angst vor der Freiheit hindurch. Es ist paradox: Ein Jeder will frei sein. Freiheit ist das Lieblingswort des modernen Menschen; wo Freiheit ist, ist Unabhängigkeit, wo Freiheit ist, ist Glückseligkeit, heißt es. Doch wenn der Mensch so frei sein möchte: Warum möchte er alles fassbar haben, materiell, sichtbar, kontrollierbar und damit in der Hand? Warum möchte er sich ständig mit seiner Umgebung vergleichen, diese bedrängen und triumphieren? Khalil Gibran schrieb dazu einst beinah ein wenig verärgert: „Wenn es ungerechtes Gesetz ist, das ihr abschaffen wollt, dann habt ihr es mit eigener Hand auf eure Stirn geschrieben. Ihr könnt es nicht auslöschen, indem ihr eure Gesetzesbücher verbrennt, oder die Stirn eurer Richter wascht, und wenn ihr das Meer darauf gießt. Und wenn es ein Despot ist, den ihr vom Thron stürzen wollt, seht zu, dass sein Thron zerstört wird, den ihr in euch errichtet habt(…) Ist es eine Furcht, die ihr vertreiben wollt, so vergesst nicht, dass sie in eurem Herzen wohnt und nicht in der Hand des Gefürchteten liegt.“[1]
 

Der Mensch ist besitzergreifend. Besitzergreifung und Freiheit passen schwer zusammen. Genauso wie es unmöglich ist, etwas zu kontrollieren, das sich dem eigenen Kontrollsystem entzieht. Alles was wir fordern; Messbarkeit, Transparenz und Sichtbarkeit; setzt Unfreiheit voraus. Einige mögen hier einwenden, dass die gewollte Unfreiheit wiederum eine Form der Freiheit sei. Und natürlich ist es nur allzu logisch, dass, „kein Einzelner jemals dazu bereit sein wird, seine Unabhängigkeit zu opfern, außer im Wissen darum, dass er durch dieses Handeln mehr erreicht, als er aufgegeben hat.“[2] Aber es geht hier nicht primär um die Frage, ob der Mensch unfrei ist oder nicht. Sondern vielmehr darum, ob er sich seiner möglichen Freiheit oder Unfreiheit bewusst ist und damit im Wesentlichen, inwiefern der Mensch frei sein kann und an welche Bedingungen dieser erweiterte Freiheitsbegriff geknüpft ist. Die mangelnde Reflexion über die potenzielle Freiheit des Geistes führt nämlich dazu, dass die Ursache für inneren und äußeren Unfrieden nicht behoben wird. Solange der Mensch nicht erkennt, was oftmals der eigentliche Antrieb seines Handels ist, nämlich die Angst vor dem eigenen Makel, die Angst vor dem Kontrollverlust und damit die Angst vor dem Tod seines Egoismus, bleibt er in einem gefährlichen defensiven Zustand und entwickelt sich geistig nicht mehr weiter.

Doch was schrieb Khalil Gibran noch, als er den Menschen zur Mündigkeit und Konfrontation mit dem Auslöser des Unfriedens auf der Welt aufforderte? Schien er zunächst verärgert, so appelliert er nun offensichtlich gefasst an das Freiheit-Potenzial im Menschen:



„Und was sind es anders als Teile eures eigenen Ichs, die ihr ablegen wollt, um frei zu werden?“


Es ist möglich jenen Schritt zur Erlangung geistiger Freiheit zu wagen. Schließlich hat nur derjenige, der die Idee der Freiheit nicht fürchtet, auch keine Skepsis vor Gott. Gott als nicht-fassbar und unsichtbar zu erkennen, heißt zugleich, Ihn als frei zu erkennen. Den Gedanken an Gotteserfahrung und Mystik zuzulassen, bedeutet die Freiheit des Geistes und die Freiheit per se zuzulassen. All jene, die sich voller Skepsis gegen Gott stellen, haben auch hier erneut in Wirklichkeit Angst vor dem Unfassbaren, dem Kontrollverlust und damit Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit. Hinzu kommt der größte Denkfehler des Menschen; der darin besteht, dass er seine Wirklichkeit, und damit verbunden, seine Kategorien des Seins (die Gebundenheit an Körper, Raum und Zeit) auf die Wirklichkeit Gottes überträgt. Wir selbst kommen nicht ohne die Benennung und Konstruktion von Regeln, Kategorien und Bezugssystemen aus. Doch die Wirklichkeit Gottes ist nur durch den Geist erfahrbar; jedes Wort über Gott bleibt der Versuch einer Annäherung, jeder Versuch Gott in seiner Gänze zu erfassen, muss scheitern. Der Heilige Quran ist durchdrungen von dieser mystischen Dimension und Metaphorik der Wirklichkeit Gottes. Im Vers 6:104 wird diese unergründbare Mehrdimensionalität der göttlichen Wirklichkeit durch die Symbolik des Blickes; der Wahrnehmungsfähigkeit der Augen; versinnbildlicht:



„Blicke können Ihn nicht erreichen, Er aber erreicht die Blicke. Und Er ist der Gütige (auch der Unergründliche [3]), der Allkundige.“ (6:104)


In Anbetracht der Komplexität und Verborgenheit der Wirklichkeit Gottes, könnte die Frage gestellt werden, inwiefern der noch unwissende und nicht-spirituell seiende Mensch, in der Lage ist Gott zu erkennen. Dabei gilt im Quran die sichtbare Wirklichkeit als eine symbolische Manifestation der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes, da diese sichtbare Wirklichkeit eine erkennbare, in sich schlüssige und komplexe Struktur besitzt, die einer höheren Maßgebung (Gott) bedarf. Die Wirkung Gottes auf der Welt ist somit für Jeden unmittelbar sichtbar und damit ist es auch Gott in gewisser Weise selbst. Aus diesem Grunde nennt sich Gott selbst auch „a-āhir“ – Der Sichtbare. Im Kontext des Verses 57:4 im Heiligen Quran heißt es darüber: „Er ist der Erste und der Letzte, der Sichtbare und der Verborgene, und Er ist der Wisser aller Dinge.“


Dennoch sollte das Potenzial des menschlichen Geistes und damit die bestmögliche Weiterentwicklung des Seins nicht beiseite geschoben und als kaum erreichbar relativiert werden. Es gibt Menschen, die es tatsächlich schaffen nach einer geistigen Entwicklung und dem Ǧihād [4] gegen ihr Nafs[5] sich von sich selbst und damit von jener Angst vor der (unsichtbaren und sichtbaren) Wirklichkeit zu befreien. Jene Menschen verlieren sich in Gott, sie haben keine Angst mehr vor jeder Art von Raum, Zeit und Körper. Sie sind zufrieden in der Zufriedenheit Gottes. Und sie versuchen erst gar nicht die Welt vollkommen zu bemessen, denn wie vermessen wäre es die Komplexität der Wirklichkeit auf Zahlen zu reduzieren und damit als solche zu ernennen? Die Vermessung der Welt ist es, die in der Tat vermessen ist.





[1] Vgl. Khalil Gibran: Der Prophet, Düsseldorf 2005. Siehe Kapitel „Von der Freiheit“

[2] Vgl. Hazrat Mirza Tahir Ahmad: Revelation, Rationality, Knowledge and Truth, London 1998. Siehe Kapitel „Individuum contra Gesellschaft“

[3] Vgl. In der englischen Koranübersetzung der Ahmadiyya Muslim Jamaat wird das arabische Wort Al-Khabīr mit „The Incomprehensible“ übersetzt. Vgl. auch Arabisch-Wörterbuch Lane, unter khabb.

[4] Arabisch für „große Anstrengung“


[5] Arabisch für „Selbst


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