Stell dir vor, du kommst aus einer gut-situierten deutschen mittelständischen Familie, studierst Islamwissenschaften oder was ähnlich exotisch Anmaßendes, besuchst von Zeit zu Zeit bildungsaffine Studienzirkel und Tagungen, reist gelegentlich im Rahmen einer Exkursion ins Ausland oder in eine neue Stadt und beherrschst neben deiner Muttersprache Grundlegendes einiger Fremdsprachen, wie Arabisch und Urdu. Wunderbar, nicht wahr? Die Gesellschaft erfreut sich deines Lebensweges, du wirst als Kosmopolit wahrgenommen, als open minded, als mündiges Individuum, das die Gesellschaft positiv mitgestalten und bereichern will. Du bist relevant. Und jetzt machen wir mal einen Bruch.
Du bist irrelevant.
Du bist dieselbe
Person, kommst aber aus einer Familie mit Migrationshintergrund, hast mindestens
vier bis fünf Geschwister, musst darauf achten, dass du deinen Eltern nicht zur
Last fällst, herausfinden welcher Arbeitgeber dich mit Kopftuch nimmt und dich rechtfertigen,
warum du etwas mit Religion studierst
(da du das Klischee a priori erfüllst und nichts Nützliches werden kannst).
Deine Fremdsprachen werden als Muttersprachen wahrgenommen; wenn es sein muss als nett, aber überflüssig. Deine Selbstentfaltung gilt als bloßer Konformismus, deine
Präsenz in der Öffentlichkeit als Provokation und dein Engagement als
obligatorisches politisches Statement, zur Abgrenzung von Fanatismus oder der religiösen
Unterwanderung des deutschen Rechtsstaats.
Du bist, überspitzt, in erster Linie
funktional. Was zählt ist nicht dein Wert, sondern dein Mehrwert. Du musst nützlich
sein und ob du nützlich bist, bestimmst nicht du selbst, sondern jemand
Anderes. Die Gesellschaft zum Beispiel. Oder dein Arbeitgeber.
Erst kürzlich
duftest du, Variante Nummer 2. deines Selbst, bei einem irischen, migranten-
und kopftuchfreundlichen Modeunternehmen, aushelfen. Hier ist es sogar egal ob du Deutsch sprichst, Englisch reicht aus.
Damit das Unternehmen Kosten spart, zahlt es keine Berufskleidung. Du trägst deine
eigene unfreiwillige Uniform, von Kopf bis Fuß schwarz. Zusammen mit anderen
ausländischen Studenten arbeitest du als Teil eines "Blitzteams" in verschiedenen Abteilungen. Du faltest und sotierst beinahe ununterbrochen billige Kleidung, wahrscheinlich
Kinderarbeit, die immer wieder von den Kunden auf den Boden geschmissen wird. Acht
Stunden lang. Eine Gabe ist eine Aufgabe, schrieb Käthe
Kollwitz. Nur was ist, wenn deine Gabe nicht deine Aufgabe bestimmt, sondern deine Aufgabe deine Gabe?
Wenn du nicht gründlich
genug arbeitest, bekommst du es nämlich mit der bösen Fratze des Kapitalismus zu tun. Früher schien sie fast ausschließlich männlich. Heute ist es eine Frau, die dich anmahnt:
„Es geht uns nur um die Zahl. Ihr seid austauschbar. Wenn ihr nicht schnell
genug arbeitet, gibt es genug andere Leute, die eure Arbeit übernehmen können!“
Doch so schwarz
gekleidet können wir dich nicht stehen lassen, Variante 2. deines Selbst. Du
bist immer noch dieselbe Person. Du besuchst eine religionsphilosophische Tagung
über das Spannungsverhältnis von Vernunft und Glaube im Rahmen deines Studiums
und siehst, wie eine wildfremde Frau auf dich zu läuft „Freut mich riesig,
hier auch einmal eine Kopftuchfrau zu sehen! Ich hab mich schon immer gefragt,
warum die nicht kommen! Schön Sie zu sehen! Ich freu mich so Sie zu sehen,
dass ich Sie unbedingt umarmen möchte!“ und Wusch! beginnt sie dich zu umarmen.
Nun denn, als der Professor ein wenig später über die Freiheit des Wesen Gottes referiert
und Probleme damit hat, diese mit der Güte Gottes zu vereinen („Wie
kann Gott frei sein, wenn er nicht anders denn gut handeln kann?“) meldest du
dich zu Wort, während die Anderen schweigen. Du erzählst, dass der Gott im Koran sich
selbst Barmherzigkeit vorschreibt, frei entscheidend, und löst die Spannung auf.
Der Dozent ist überrascht: „Das steht im Koran?“. Mehrere Tagungsteilnehmer
sprechen dich im Laufe der Tagung an, dass sie sich freuen, dich, eine Muslimin
zu sehen. Jemand beneidet die Leidenschaft der Muslime für
den Glauben. Die Christen seien feige
geworden und lasch in ihren Statements gegen die gefährlichen Ausprägungen des Zeitgeistes.
Muslime sind mutig? Muslime sind leidenschaftlich? Das Du beginnt.
Du lobst einen Vortrag
zur analytischen Religionsphilosophie und wirst indirekt kritisiert: „Wenn ich
richtig informiert bin, ist es im Islam verboten seine Religion zu hinterfragen.“
Du antwortest „Da sind Sie aber falsch informiert.“ und siehst wie sie beschämend
zurückschreckt und die Medien verantwortlich macht. Plötzlich wirst du fortwährend als Expertin für den Islam
zu Rate gezogen. Der Dozent schaut dich an und sagt: „ Früher haben die
Christen Muslime und Juden als Gesprächspartner nicht ernst genommen, aber
endlich sind wir soweit, dass wir voneinander lernen können. Ich habe zum
Beispiel von Ihnen gelernt.“ Er bedankt sich bei dir. Das hast du gerne gemacht! Wirklich!
Willkommen und Wasalam. Du bist und bist es nicht. In deiner Welt.
Sprich: „O Volk der Schrift (Bibel),
kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch: dass
wir keinen anbeten denn Allah und dass wir Ihm keinen Nebenbuhler zur
Seite stellen und dass nicht die einen unter uns die anderen zu Herren
nehmen statt Allah.“ Doch wenn sie sich abkehren, dann sprecht:
„Bezeugt, dass wir uns (Gott) ergeben haben.“ (3:65)
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