Samstag, 19. Oktober 2013

Willkommen in meiner Parallelwelt!


Stell dir vor, du kommst aus einer gut-situierten deutschen mittelständischen Familie, studierst Islamwissenschaften oder was ähnlich exotisch Anmaßendes, besuchst von Zeit zu Zeit bildungsaffine Studienzirkel und Tagungen, reist gelegentlich im Rahmen einer Exkursion ins Ausland oder in eine neue Stadt und beherrschst neben deiner Muttersprache Grundlegendes einiger Fremdsprachen, wie Arabisch und Urdu. Wunderbar, nicht wahr? Die Gesellschaft erfreut sich deines Lebensweges, du wirst als Kosmopolit wahrgenommen, als open minded, als mündiges Individuum, das die Gesellschaft positiv mitgestalten und bereichern will. Du bist relevant. Und jetzt machen wir mal einen Bruch.


Du bist irrelevant.


Du bist dieselbe Person, kommst aber aus einer Familie mit Migrationshintergrund, hast mindestens vier bis fünf Geschwister, musst darauf achten, dass du deinen Eltern nicht zur Last fällst, herausfinden welcher Arbeitgeber dich mit Kopftuch nimmt und dich rechtfertigen, warum du etwas mit Religion studierst (da du das Klischee a priori erfüllst und nichts Nützliches werden kannst). Deine Fremdsprachen werden als Muttersprachen wahrgenommen; wenn es sein muss als nett, aber überflüssig. Deine Selbstentfaltung gilt als bloßer Konformismus, deine Präsenz in der Öffentlichkeit als Provokation und dein Engagement als obligatorisches politisches Statement, zur Abgrenzung von Fanatismus oder der religiösen Unterwanderung des deutschen Rechtsstaats.


Du bist, überspitzt, in erster Linie funktional. Was zählt ist nicht dein Wert, sondern dein Mehrwert. Du musst nützlich sein und ob du nützlich bist, bestimmst nicht du selbst, sondern jemand Anderes. Die Gesellschaft zum Beispiel. Oder dein Arbeitgeber.


Erst kürzlich duftest du, Variante Nummer 2. deines Selbst, bei einem irischen, migranten- und kopftuchfreundlichen Modeunternehmen, aushelfen. Hier ist es sogar egal ob du Deutsch sprichst, Englisch reicht aus. Damit das Unternehmen Kosten spart, zahlt es keine Berufskleidung. Du trägst deine eigene unfreiwillige Uniform, von Kopf bis Fuß schwarz. Zusammen mit anderen ausländischen Studenten arbeitest du als Teil eines "Blitzteams" in verschiedenen Abteilungen. Du faltest und sotierst beinahe ununterbrochen billige Kleidung, wahrscheinlich Kinderarbeit, die immer wieder von den Kunden auf den Boden geschmissen wird. Acht Stunden lang. Eine Gabe ist eine Aufgabe, schrieb Käthe Kollwitz. Nur was ist, wenn deine Gabe nicht deine Aufgabe bestimmt, sondern deine Aufgabe deine Gabe?


Wenn du nicht gründlich genug arbeitest, bekommst du es nämlich mit der bösen Fratze des Kapitalismus zu tun. Früher schien sie fast ausschließlich männlich. Heute ist es eine Frau, die dich anmahnt: „Es geht uns nur um die Zahl. Ihr seid austauschbar. Wenn ihr nicht schnell genug arbeitet, gibt es genug andere Leute, die eure Arbeit übernehmen können!“


Doch so schwarz gekleidet können wir dich nicht stehen lassen, Variante 2. deines Selbst. Du bist immer noch dieselbe Person. Du besuchst eine religionsphilosophische Tagung über das Spannungsverhältnis von Vernunft und Glaube im Rahmen deines Studiums und siehst, wie eine wildfremde Frau auf dich zu läuft „Freut mich riesig, hier auch einmal eine Kopftuchfrau zu sehen! Ich hab mich schon immer gefragt, warum die nicht kommen! Schön Sie zu sehen! Ich freu mich so Sie zu sehen, dass ich Sie unbedingt umarmen möchte!“ und Wusch! beginnt sie dich zu umarmen. Nun denn, als der Professor ein wenig später über die Freiheit des Wesen Gottes referiert und Probleme damit hat, diese mit der Güte Gottes zu vereinen („Wie kann Gott frei sein, wenn er nicht anders denn gut handeln kann?“) meldest du dich zu Wort, während die Anderen schweigen. Du erzählst, dass der Gott im Koran sich selbst Barmherzigkeit vorschreibt, frei entscheidend, und löst die Spannung auf. Der Dozent ist überrascht: „Das steht im Koran?“. Mehrere Tagungsteilnehmer sprechen dich im Laufe der Tagung an, dass sie sich freuen, dich, eine Muslimin zu sehen. Jemand beneidet die Leidenschaft der Muslime für den Glauben.  Die Christen seien feige geworden und lasch in ihren Statements gegen die gefährlichen Ausprägungen des Zeitgeistes. Muslime sind mutig? Muslime sind leidenschaftlich? Das Du beginnt.


Du lobst einen Vortrag zur analytischen Religionsphilosophie und wirst indirekt kritisiert: „Wenn ich richtig informiert bin, ist es im Islam verboten seine Religion zu hinterfragen.“ Du antwortest „Da sind Sie aber falsch informiert.“ und siehst wie sie beschämend zurückschreckt und die Medien verantwortlich macht.  Plötzlich wirst du fortwährend als Expertin für den Islam zu Rate gezogen. Der Dozent schaut dich an und sagt: „ Früher haben die Christen Muslime und Juden als Gesprächspartner nicht ernst genommen, aber endlich sind wir soweit, dass wir voneinander lernen können. Ich habe zum Beispiel von Ihnen gelernt.“ Er bedankt sich bei dir. Das hast du gerne gemacht! Wirklich!


Willkommen und Wasalam. Du bist und bist es nicht. In deiner Welt.

Sprich: „O Volk der Schrift (Bibel), kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch: dass wir keinen anbeten denn Allah und dass wir Ihm keinen Nebenbuhler zur Seite stellen und dass nicht die einen unter uns die anderen zu Herren nehmen statt Allah.“ Doch wenn sie sich abkehren, dann sprecht: „Bezeugt, dass wir uns (Gott) ergeben haben.“ (3:65)

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1 Kommentar:

  1. Sehr interessant. Man ist es und irgendwo ist man es wirklich doch nicht.. Sehr gut geschrieben ;)

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