Mag sein, dass Khorchides Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ für den abgebrühten Leser ein wenig weichgespült daherkommt. Aber mag auch sein, dass Tillschneider das Wort "Barmherzigkeit" übersehen hat, als er begann Khorchides Werk derartig zu verreißen, dass der gemeine Leser sich insgeheim wünschte, er möge doch ein wenig Barmherzigkeit walten lassen über den netten Khorchide. Gibt es eine allumfassende, mess- und fassbare islamische Theologie, Lehre von Gott? Tillschneiders Essay „Fragwürdiges Plädoyer für eine infantile Theologie“ zeugt nicht nur von einer dreist anmaßenden Überheblichkeit; es ist schlicht und einfach streckenweise unwissenschaftlich und in sich paradox. Als renommierter Islamwissenschaftler hätte er wissen müssen, dass Theologie und Wissenschaft gleichermaßen nie dem Anspruch an Objektivität, noch dem Anspruch an Autonomie gerecht werden können. Dennoch kritisiert er kläglich, Khorchide definiere „den Islam einfach nach seinem Geschmack um“, obwohl er doch bitte „mit der islamischen Theologie ringen“ müsste.
Die Hervorhebung eines Gottesattributes impliziert nicht die Verleugnung eines anderen
Um es noch
einmal klarzustellen: Khorchide spricht nicht von der islamischen Theologie schlechthin (was auch immer das sein
soll), sondern von einer Theologie einer spezifischen Denkschule. Im Frühislam
standen sich die Verfechter der „Theologie der Gerechtigkeit/Vernunft“ (Muʿtaziliten)
und die der „Theologie der Allmacht/Vorherbestimmung“ (Ašʿarīten) gegenüber. In
der Moderne haben sich eine „Feministische Theologie“ und eine „Theologie der
Neo-Traditionalisten“ herausgebildet. Der Mensch denkt in Kategorien und leitet
aus diesen Kategorien eine logische Argumentation und Plausibilität der
Interpretation des Textes, ganz gleich ob religiöser Natur oder nicht, ab. Wie
sollte es auch anders sein?
Das bedeutet
indes nicht, dass unterschiedliche Theologien einer Religion absolut konträr
zueinander stehen. Vielmehr betonen sie bestimmte Kategorien stärker als andere
und leiten aus diesen ihre Interpretationsansätze ab. Wer die Entwicklung und
Entstehung islamischer Denkschulen beobachtet hat, erkennt nämlich schnell,
dass ihre Begründer im Ursprung dieselbe Lehre vertraten. Allein die permanente
Hervorhebung eines bestimmten Attribut Gottes in religiösen öffentlichen
Diskussionen begünstigte Abgrenzungsmechanismen, die zur Entstehung
eigenständiger Denkschulen führten. Eine Theologie der „Barmherzigkeit“ wird
somit gezwungenermaßen die „Barmherzigkeit“ Gottes als oberstes Prinzip zur
Interpretation der islamischen Lehre anführen. Damit wird nicht generiert, dass
Khorchide keine Denkarbeit leisten muss oder wenig mit dem koranischen Text zu
ringen hat. Sondern, dass er die Barmherzigkeit Gottes mit dem zu
interpretierenden Text zu vereinbaren versucht. Ob dies möglich ist, kann im
konkreten Einzelfall geklärt werden. Aber hinsichtlich der theoretischen Mehrdimensionalität
eines Textes, ist es zumindest relativ wahrscheinlich. Anzunehmen, es gebe so
etwas wie eine adulte, autonome und intellektuellere Theologie, ist naiv, und damit, wie kann es anders sein,
infantil.
Biographien werden erfolgreich als Subjektwerdung der Theorie vermarktet
Der Begründer einer theologischen Denkschule ist nie autonom, daraus schlussfolgernd ist auch die schriftlich verfasste Theologie nie vom Autor zu trennen. Der Versuch den Autor vom Text zu trennen, muss scheitern. Die Strukturalisten unter den Literaturwissenschaftlern haben das Scheitern eines solchen Versuches bereits infolge Roland Barthes Theorie vom „Tod des Autors“ (1967) miterleben können. Um das Potenzial des Textgehaltes und die Autonomie des Textes zu wahren, blendeten sie in der Exegese den individuellen biographischen Kontext des Autors aus - mit dem Ergebnis, dass sich die Idee in der Praxis nicht durchsetzen konnte. Denn der Rezipient möchte immer wissen, wer sich hinter dem Text verbirgt.
Biographien werden erfolgreich als Subjektwerdung der Theorie vermarktet
Der Begründer einer theologischen Denkschule ist nie autonom, daraus schlussfolgernd ist auch die schriftlich verfasste Theologie nie vom Autor zu trennen. Der Versuch den Autor vom Text zu trennen, muss scheitern. Die Strukturalisten unter den Literaturwissenschaftlern haben das Scheitern eines solchen Versuches bereits infolge Roland Barthes Theorie vom „Tod des Autors“ (1967) miterleben können. Um das Potenzial des Textgehaltes und die Autonomie des Textes zu wahren, blendeten sie in der Exegese den individuellen biographischen Kontext des Autors aus - mit dem Ergebnis, dass sich die Idee in der Praxis nicht durchsetzen konnte. Denn der Rezipient möchte immer wissen, wer sich hinter dem Text verbirgt.
Wie dieses
sozial-kommunikative Verhalten fruchtet, können wir anhand der
Erfolgsgeschichten von Necla Kelek und Seyran Ates sehen. Es ist unglaublich:
Obwohl sie beide die neusten Erkenntnisse des islamwissenschaftlichen und
soziologischen akademischen Diskurses übergehen, werden sie als
Wissenschaftlerinnen ernst genommen. Sie wettern (immer noch) unsäglich gegen
das Kopftuch "als Symbol der Unterdrückung[1]",
gegen die angebliche Islamisierung des Westens und werden an Universitäten und
zu großräumig-geplanten Veranstaltungen geladen. Der subjektiv biographische
Hintergrund der Autoren und damit die Namen der Autoren selbst werden dabei zur
Verkörperung der verkündeten „wissenschaftlichen“ Theorien. Als „Muslimas“ sind
sie Subjektwerdung der Theorie und damit die Rechnung gänzlich aufgeht,
bedienen jene sich auch der Diversität und Beliebigkeit der Textdeutung (hier
des Korans und der Ahadith, Aussprüche des Propheten Muhammad). Wie leicht
selbst ein noch so schwacher Interpretationsansatz an Einfluss gewinnen kann,
beweist beispielsweise die Anti-Wissenschaftlichkeit in der Genderforschung,
wie der jüngst erschienene Artikel von Martenstein in der Zeit veranschaulicht[2]
Was bleibt ist die Idee der Zurücknahme des Subjektes als spirituelle Herausforderung der Koraninterpretation
Was bleibt ist die Idee der Zurücknahme des Subjektes als spirituelle Herausforderung der Koraninterpretation
Eben jenes
Phänomen der beliebigen Textinterpretation wird im Koran selbst problematisiert:
"Er ist es, Der das Buch zu dir
herabgesandt hat; darin sind Verse von entscheidender Bedeutung – sie sind die
Grundlage des Buches – und andere, die unterschiedlich gedeutet werden können.
Die aber, in deren Herzen Verderbnis wohnt, suchen gerade jene heraus, die
verschiedener Deutung fähig sind, im Trachten nach Zwiespalt und im Trachten
nach Deutelei. Doch keiner kennt ihre Deutung außer Allah und diejenigen, die
fest gegründet im Wissen sind, die sprechen: „Wir glauben daran; das Ganze ist
von unserem Herrn“ – und niemand beherzigt es, außer den mit Verständnis
Begabten."(3:8)
Als koranischer
Lösungsansatz für eine (bestmögliche Annäherung an eine) umfassende Theologie gilt
in Konklusion die Zurücknahme der subjektiven Identität und Vernichtung eigener
Machtinteressen durch eine gelebte Spiritualität, sowie die beständige
Reflexion der koranischen Lehre in seiner Ganzheitlichkeit. Jene Theologie
fordert eine Symbiose von intellektueller und spiritueller Auseinandersetzung
mit einem Text. Das ist freilich nicht leicht und bedarf, theologisch-heilsgeschichtlich
argumentiert, einer besonderen göttlichen Rechtleitung.
Abgesehen davon,
ist einiges von dem was Tillschneider theoretisiert, eindeutig falsch. So
schreibt er: „Bis zu Khorchide nämlich war der Islam, abgesehen von
antinomistischen Strömungen innerhalb der Mystik, eine Gesetzesreligion, die
den Gläubigen eine detailreich ausgearbeitete Lebensordnung vorgeschrieben
hat.“
Der Islam war
vielleicht für Laien eine Gesetzesreligion. WissenschaftlerInnen wussten und
wissen auch derzeit, dass der Koran selbst prozentual gesehen nur 3-4%
rechtliche Vorschriften enthält. Und dass der Koran mehr Potenzial zur Betonung
der Mystik bietet, als so manchem wohlgefällig ist. Angesichts dieser Tatsache,
ist mir eine infantile Theologie lieber. Kinder sind immerhin ehrlich.
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