Dienstag, 16. Juli 2013

Etikettenschwindel – Was soziale Gerechtigkeit mit Religion zu tun haben muss oder auch nicht

Es ist doch immer wieder interessant zu beobachten, wann der Religion im öffentlichen Leben für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eine immense Bedeutung zugesprochen wird und wann sie außen vor bleiben darf. Heute beispielsweise durfte der Leser der Süddeutschen Zeitung Zeuge einer solch beliebigen Deutungshoheit werden. Dort wurde die vor Kurzem veröffentlichte Bertelsmann-Studie vorgestellt (mit der verheißungsvollen Überschrift: „Zusammenhalt ist Glück“[1]), in der Wissenschaftler herausgefunden zu haben meinen, wie stark der gesellschaftliche Zusammenhalt in einzelnen europäischen und amerikanischen Nationen sei. Das zunächst dargelegte Ergebnis scheint wenig überraschend. So heißt es: „Dass Reichtum und eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Einkommen den Zusammenhalt stärken, geht etwa aus der Studie ganz klar hervor. Reichere Staaten liegen in der Tabelle tendenziell auf vorderen Plätzen, ärmere hinten. Wo die Einkommen stark auseinanderklaffen wie etwa in Griechenland oder Polen, ist es auch mit dem Zusammenhalt nicht so weit her.“
Doch es dauert nicht lange, da wird eben jene simple Erkenntnis als fadenscheiniges Argument für eine ausgehende Gefahr von gelebter Religiosität für den gesellschaftlichen Frieden gebraucht: „Überhaupt: Die Vermutung, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt vor allem auf einem intakten Gerüst kultureller und moralischer Werte beruht, bestätigen die Ergebnisse der Untersuchung eben nicht. Sie weisen vielmehr in die entgegengesetzte Richtung: Nicht in allen, aber eben doch in signifikant vielen Ländern, in denen Religion im Alltag eine wichtige Rolle spielt, etwa in Rumänien, Griechenland, Polen oder Italien, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt eher gering. In allen sechs Ländern, in denen der Zusammenhalt am stärksten ausgeprägt ist, spielt Religion dagegen im täglichen Leben der Bewohner eine vergleichsweise geringe Rolle.“
Das scheint doch eine sehr steile These, angesichts des zuvor angeführten Gedankens, dass sich vor allem die soziale Gerechtigkeit und damit die Einkommensverteilung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken. Insbesondere dann, wenn eine Diskrepanz zwischen moralischen und kulturellen Wertevorstellungen (Theorie) und ihrer Umsetzung (Praxis) nicht ausgeschlossen werden kann. Eine geäußerte Unzufriedenheit oder Spaltung in der Gesellschaft, insbesondere in Zeiten der Wirtschaftskrise,  ist nur eine Ausdrucksform einer erlebten sozialen Ungerechtigkeit. Ob die Mehrheit eines Landes das Etikett „christlich-orthodox“ oder „muslimisch“ trägt oder nicht: Wenn in der Praxis das Vertrauen in die Integrität des Staates oder der Sozialpolitik verloren geht, hat das natürlich Auswirkungen auf den wahrgenommenen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Man fragt sich wie der Interpret der Studie überhaupt auf die Idee gekommen ist, ohne Weiteres einen Kausalzusammenhang zwischen dem religiösen Bekenntnis einer Mehrheit und der erlebten sozialen Ungerechtigkeit herzustellen. Dahinter scheint sich wohl die Überzeugung zu verbergen, dass Religionen per se ein Grundübel für die Entwicklung einer Gesellschaft sind. Als ob Egoismus, Macht- und Geldgier sowie fanatisches und totalitäres Gedankengut exklusive Bestandteile der Religion wären. Die Religion ist nicht autonom. Wer immer noch annimmt die Religon sei das Grundübel unserer Zeit, ist selbst abergläubisch. Denn er glaubt daran, dass Religionen unabhängig von Zeit, Raum und Mensch Einfluss nehmen und existieren können und dass der Egoismus des Menschen schwächer sei als das ehrliche Befolgen einer religiösen Lehre.
Die wahre Erkenntnis der Studie birgt indessen folgendes Zitat: "Insgesamt kommt die Studie zu dem Schluss, dass ein höherer oder niedrigerer Migrantenanteil keinerlei bemerkenswerten Einfluss auf den Zusammenhalt in einem Land hat." Das mag für viele tatsächlich neu sein. Aber ob das reicht?

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[1] http://www.sueddeutsche.de/leben/bertelsmann-studie-deutschland-fehlt-die-toleranz-1.1722182-2

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